«Hier zu sein, ist anstrengender, als im Gefängnis zu sein»

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Im Massnahmenzentrum Uitikon können schwerstkriminelle Jugendliche ihre Strafe unter auf sie abgestimmten Bedingungen absitzen. Jonas Margies begleitet sie. Der Umgang mit den Straftätern macht ihn sensibler für Gewalt und Flüche in Liedern.

Wer zu den straffälligen Jugendlichen, zu den Besuchern, oder zu den Sozialpädagogen des Massnahmenzentrums Uitikon (MZU) gehört, sieht man auf den ersten Blick kaum. «Dass die Straftäter spezielle Kleidung tragen, ist ein Klischee», sagt Jonas Margies. Er trägt ein blaues Hemd, hat einen wachen Blick mit hellen Augen und redet überlegt. Er ist Sozialarbeiter in Ausbildung und arbeitet seit bald zwei Jahren in der geschlossenen Abteilung des MZU. Statt im Gefängnis können schwerstkriminelle Jugendliche hier ihre Strafe absitzen.

Momentan wohnen rund 60 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 30 Jahren im grau gestrichenen Gebäude. Gewalt, versuchter oder ausgeübter Totschlag, Pädophilie: Die Liste der Verbrechen der Klienten, wie sie hier genannt werden, ist lang. Noch länger ist das Verhaltensreglement, das sie befolgen müssen, beispielsweise kein Pokerspiel, keine Kapuze, kein Handy oder Fernsehen. «Wäre ich in diesem Setting, ich weiss nicht, ob ich immer alles einhalten könnte», sagt Margies. Trotz der unattraktiven Verpackung stellt das MZU eine Chance für die Jugendlichen dar. Es bietet ihnen die Möglichkeit, statt eines passiven Gefängnisaufenthalts eine Ausbildung mit massgeschneiderter Therapie zu absolvieren.

Jonas Margies, Sozialpädagoge in Ausbildung im Massnahmenzentrum Uitikon. Foto: Colin Frei

Weder Klienten, Ausbildungen noch Straftaten werden in einen Topf geworfen: «Bei uns ist jeder Tag wieder ein wenig anders», sagt Margies. Die Tage unterscheiden sich auch je nach Stimmung der neun Klienten auf seiner Wohngruppe. Nach dem Frühstück müssen die Jugendlichen zur Schule oder an ihren Arbeitsplatz. Manche besuchen gar die öffentliche Berufsschule. Einige werden dabei per GPS nachverfolgt. Andere haben Lehrer, die zu ihnen auf die Abteilung kommen.

Inmitten der vielen individuellen Schicksale ist es schwer, ein allgemeingültiges Muster zu finden. Doch das heisse nicht, dass hier ein Wunschkonzert veranstaltet werde. «Hier zu sein, ist anstrengender, als im Gefängnis zu sein», sagt Margies. Denn im MZU werden die Jugendlichen ständig mit sich konfrontiert. Hier sind die Verbrechen nicht begangen und vergessen. Im Gegenteil: «Wir legen immer wieder den Finger auf die Wunde», umschreibt Margies die Aufarbeitung. Ob die Klienten schliesslich weiterkommen, liege dann in ihrer Hand. «Im optimalen Fall dürfen sie sich nach sechs oder zwölf Monaten freier bewegen», sagt er. Doch es gebe auch Jugendliche, die vier Jahre auf der geschlossenen Abteilung bleiben. Ausgang erhalten sie erst, wenn das Risikomanagement – das nebst den Therapeuten auch die Sozialpädagogen durchführen – ergibt, dass sie keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. Dieses Dokument ist eines von vielen, das Margies ausfüllen muss. «Beispielsweise ein Besuch bei einem Zahnarzt ist kompliziert. Das zieht viel Organisation, wie etwa das Bestellen eines Polizeiwagens, nach sich.»

Sozialpädagoge statt Schreiner

Margies absolvierte ursprünglich eine Ausbildung als Schreiner. Bereits damals merkte er, dass es ihm lag, mit den schwierigen Kunden umzugehen. «Ich sehe es eher als Herausforderung und es macht mir nichts, wenn mich jemand nicht sehr mag», sagt der 28-Jährige. Zudem gefalle es ihm, in Strukturen zu arbeiten. «Als ich hierherkam, merkte ich einfach, dass ich hierher gehöre», sagt er. Wie bei allen Betreuungspersonen baumelt auch an seiner grauen Jeans ein Funktelefon. Drückt er auf eine spezielle Taste, wird eine Gruppe Sicherheitskräfte alarmiert. «Sie wären innert einer Minute auf dem Platz», sagt er. Es wäre nicht das erste Mal, dass er den Knopf benutzt. Doch besser sei es, wenn er die Situation bereits vor dem Eskalieren entspannen könne. Das klappe am besten mit Mitklienten. «Sie können sich gegenseitig am besten beruhigen.»

Grau in grau: Die Disziplinarzelle im MZU Uitikon. (Bild: Colin Frei)

Verstossen die Klienten gegen eine Regel, indem sie beispielsweise jemanden beleidigen, landen sie in der Disziplinarzelle. Diese erinnert ein wenig an eine Gummizelle in der Psychiatrie: Die Matratze liegt auf einem Sockel, der Tisch besteht aus einer Betonplatte, vor welcher ein Hocker steht. Laut dem Direktor des MZU, Gregor Tönnissen, vergeht kaum eine Woche, in der nicht jemand in der Zelle steckt. Ist die Aussicht in den anderen Zellen auf den Innenhof gerichtet, blickt man hier bloss auf ein Aluminiumblech. «Das musste installiert werden, weil ansonsten nicht genug Licht in die Zelle gekommen wäre», sagt Tönnissen. Die Zelle ist in verschiedenen Grautönen gehalten. Dieses Farbkonzept zieht sich durch die ganze Einrichtung durch. Das reizarme Umfeld soll die Jugendlichen beruhigen. Doch verbringt man zu viel Zeit in diesem Umfeld, fehlen die Farben, deshalb gibt es hie und da wieder einige Farbkleckse, beispielsweise farbige Kissen in der geschlossenen Abteilung. Woran die Direktion aber weiterhin festhält, ist am Medienreglement. «Wir können nicht von einem Gewalttätigen erwarten, Gewalt zu sehen und sich davon nicht reizen zu lassen», sagt Tönnissen.

Das führt dazu, dass in der Abteilung Ordner herumgereicht werden, in denen rund 80 DVDs stecken. Aus diesen können die Jugendlichen auswählen, was sie sehen wollen. «Doch diese Filme haben fast alle eine Altersfreigabe schon ab zwölf Jahren», sagt Margies. Er drückt auf die blaue Taste neben der schweren Zelltüre. Musik füllt den Raum, sie stammt von einem der vier Radiosender, die hier empfangen werden können. Zudem können die Klienten einen iPod mit Musik erhalten. Doch diese wird immer wieder geprüft. Wenn zu häufig «Bitch» und «Motherfucker» vorkomme, werden die betreffenden Tracks gelöscht und der iPod konfisziert. Um 20 Uhr ist Einschluss, dann müssen die Jugendlichen in ihre Einzelzelle. Nebst dem, dass sie dort ihre Hausaufgaben machen sollen, entwickeln sie auch neue Hobbys. «Viele machen Musik: Einige haben ein eigenes Piano im Zimmer oder mixen Beats mit Tablets, die keinen Internetzugang haben», sagt Margies. Wenn er so erzählt, wirkt er wie ein netter Kollege von nebenan, doch wenn es sein muss, greift er klar durch. «Legt mir jemand beispielsweise die Hand auf die Schulter, sage ich, das ist mir zu nahe. Ich bin nicht der Kumpel», sagt er.

«Da könnte man dazwischengehen»

Wenn Margies nach Hause zu seinen zwei Kindern geht, lässt er all diese Situationen und Probleme in Uitikon. «Ich kann gut trennen zwischen Arbeit und Privatem», sagt er. Trotz dem täglichen Umgang mit Mördern habe er sich nicht an Gewalt gewöhnt, im Gegenteil: «Ich wurde sensibler.» Wenn er manchen Diskussionen in seinem privaten Umfeld zuhöre, habe er schon oft gedacht: «Da könnte man schon bald dazwischengehen.» Es seien diese Momente, in denen er sich erinnern müsse, dass ein Unterschied besteht zwischen jemandem, der ein Gewaltverbrechen wirklich getan hat, und jemandem, der nur davon redet.

Obwohl Margies die Struktur im MZU schätzt, diskutiert er auch gerne: Das kann er hier zu Genüge. «Wir reden über moralische Haltungen und respektvolles Verhalten», sagt er. Denn zur Chance des Neuanfangs, welche die Jugendlichen in den grauen Wänden erhalten, gehört, dass sie bereit werden für die farbenfrohe Freiheit, die draussen auf sie wartet. Dafür müssen sie die teils jahrelang eingearbeiteten Verhaltensmuster überdenken. «Manche wanderten von Heim zu Heim, bis sie schliesslich hier landeten», sagt Margies. Da sei vieles bereits kaputtgegangen. Doch manchmal merke er meist vor den Klienten, wie sich etwas an ihnen verändere. Beispielsweise sei es am Anfang noch so, dass ein Klient zu ihm komme und sage: «De het mich agfiggt!» Margies fragt dann, wie er das getan habe. «Er het mich komisch agluegt», sei dann die Antwort. «Frag ihn mal, was los ist. Vielleicht fand er nur deinen Pulli schön», erklärt ihm Margies dann. So lernen die Klienten, ihre Konflikte statt mit Fäusten und Flüchen mit Gesprächen auszutragen.

Solche Veränderungen passieren, wenn die Jugendlichen die Chance packen. Doch es gibt auch den anderen Fall: «Für mich persönlich ist es am schlimmsten, wenn jemand, in dem ich Potenzial sehe, sich selbst aufgibt und die Zeit im Massnahmenzentrum abbricht», sagt Margies.


Gregor Tönnissen leitet das Massnahmenzentrum Uitikon mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die straffällig wurden. Er ist überzeugt, dass sich die Insassen verändern können.

Wie bereiten Sie die Jugendlichen im Massnahmenzentrum Uitikon (MZU) auf die Freiheit vor?
Gregor Tönnissen: Der ideale Verlauf ist, dass der Jugendliche nach dem Eintritt in die geschlossene Abteilung rund zwölf Monate dortbleibt und dann in die offene übertritt. Parallel dazu geht er in die Schule und es wird geprüft, wo seine Potenziale liegen. Währenddessen kann er eine Schnuppertour durch drei Betriebe unternehmen. Dann entscheidet er sich für eine Ausbildung, beispielsweise als Schreiner.

Wird diese mit einem Fähigkeitszeugnis abgeschlossen?
Ja. Wenn die Risikoeinschätzung es zulässt, besuchen manche Klienten sogar die öffentliche Gewerbeschule. Nebst der Begleitung durch die Sozialpädagogen und der Ausbildung ist die Therapie das dritte Standbein. In dieser geht es nicht nur um die Behandlung der diagnostizierten psychischen Störung, sondern auch um die Straftat. Wir wollen, dass die Person auch lernt, draussen mit der eigenen Gewaltstörung, sexueller Paraphilie – einer zwanghaften, von der Norm abweichenden sexuellen Verhaltensweise – oder Ähnlichem umzugehen.

Direktor des MZU in Uitikon Gregor Tönnissen. Foto: Colin Frei

Wie erreichen Sie diese Veränderung in den Jugendlichen?
Mit Verhaltenstherapie. Beispielsweise lernt ein Sexualstraftäter mit Pädophilie, dass er einen Umweg macht und nicht neben dem Kindergarten durchgeht, um zur Bushaltestelle zu kommen. Das Ziel ist, dass er sich immer unter Kontrolle hat. Das Gleiche probieren wir auch mit Sozialpädagogik und der Ausbildung zu erreichen. So soll der Klient, wenn er wieder draussen ist, über ein Risikomanagement verfügen, damit es nicht zu weiteren Delikten kommt.

Welche Regeln braucht es, um dies zu erreichen?
Grundsätzlich ist jede Form von Gewalt verboten. Auch Schaukämpfe, Konsum von Betäubungsmitteln, Alkohol, zu späte Rückkehr nach dem Ausgang oder manche Gegenstände sind nicht erlaubt.

Welche Übertretungen wurden Ihnen zuletzt gemeldet?
Heute hat jemand ein Handy bei sich versteckt, und ein anderer hat Bargeld auf die Wohngruppe geschmuggelt. Natürlich fragen wir uns, was der Klient mit dem Geld wollte, denn mit diesem kann er in der geschlossenen Abteilung eigentlich gar nichts anfangen.

Was geschieht nach einem Verstoss?
Schwerere Verstösse führen zu einem Aufenthalt in der Disziplinarzelle. Bei leichteren werden Geldbussen vom Lohn der Klienten abgezogen. Diese Bussen werden auf ein gemeinsames Freizeitkonto eingezahlt.

Was geschieht mit dem Geld auf diesem Freizeitkonto?
Damit wird beispielsweise die Weihnachtsfeier bezahlt oder die Bespannung des Billardtisches finanziert.

Worin besteht der Unterschied des MZU zu einem Gefängnis?
Auch in normalen Zürcher Gefängnissen finden deliktorientierte Therapien statt. Doch dann gibt es Verurteilte, die unter den Artikel 61 des Strafgesetzbuches fallen. Für diese gibt es Betreuung durch Sozialpädagogen, Therapeuten und Lehrer. Sässen die Jugendlichen stattdessen im Gefängnis, hätten sie unter Umständen keine Therapie, dann wäre auch das Risiko, dass sie wieder eine Straftat begingen, höher.

Im Bezug auf individuelle Betreuung war der Fall Carlos 2013 ein grosses Thema. Veränderte sein Fall etwas in der Betreuung der Jugendlichen?
Nein, nicht wirklich. Das war ein ganz besonderer Fall. Nicht unseretwegen oder wegen des Gesetzes oder des Anwalts, sondern wegen ihm als Person.

Gibt es viele solche besondere Fälle bei Ihnen im MZU?
Nein. Das Schweizer Recht ist etwas ganz Spezielles in der internationalen Landschaft. Wir sind in diesem Bereich fortschrittlicher als manches andere Land. Es wäre ein fataler Fehler, wenn wir uns von Einzelpersonen ein grundsätzlich gut funktionierendes System über den Haufen werfen liessen.

Erstellen Sie für jeden Klienten ein individuelles Programm?
Durch den Fall Carlos wurden wir noch sensibler auf Besonderheiten, die einzelne Personen haben. Trotz der Notwendigkeit der Gleichheit in der Gruppe wollen wir individualisieren und auf Besonderheiten eingehen.

Wo stossen Sie bei der individuellen Betreuung auf Grenzen?
Wenn zehn Personen an einem Tisch sitzen, braucht es Regeln, die für alle gelten. Sonst kann man sich auch zu Tode individualisieren.

Diese Arbeit braucht viel Personal. Nachdem Sie den Neubau eröffnet hatten, mussten Sie 2016 eine Abteilung aufgrund Personalmangel schliessen. Haben Sie nun wieder mehr Bewerberinnen und Bewerber?
Es wurde besser. Wir haben in den letzten zwölf Monaten eine Entspannung erlebt. Doch es ist immer noch ein spezielles Umfeld, wenn man mit Leuten arbeitet, die anderen schwerste Schäden zufügen. Das ist einfach schwierig. Ich habe schon oft erlebt, dass die Leute zurückschrecken, wenn sie merken, mit welchen Menschen sie hier zusammenarbeiten. Nicht alle können mit dieser Aggressivität und dem Bedrohungspotenzial umgehen.

Sie arbeiten schon viele Jahre hier. Was ist Ihre Motivation, zu bleiben?
Ich mache den Job gerne.

Haben Sie Hoffnung für die Jugendlichen?
Mehr als das: Wenn ich nicht überzeugt wäre, dass wir nicht wenigstens bei einem von zehn etwas bewirken können, wäre ich völlig fehl am Platz.

Der Sonderparagraf: Im Schweizer Strafgesetzbuch gibt es einen Sonderparagrafen für junge Erwachsene. Artikel 61 sagt, wenn jemand im Alter von 18 bis 25 Jahren eine Straftat begeht, die im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung steht, kann das Gericht den Täter oder die Täterin in eine Einrichtung für junge Erwachsene einweisen. Ziel dieser Massnahme ist in erster Linie die Verminderung des Rückfallrisikos mithilfe von sozialpädagogischer und therapeutischer Hilfe. Zudem sollen die Jugendlichen durch berufliche Aus- und Weiterbildung wieder in die Gesellschaft integriert werden. Die Massnahmen für junge Erwachsene müssen in speziellen Massnahmenvollzugseinrichtungen wie dem MZU, getrennt von den übrigen Anstalten und Einrichtungen, durchgeführt werden.

Dieser Artikel erschien am 1. Juni in der Limmattaler Zeitung. Bilder von Colin Frei

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