Sie arbeiten, wenn andere schlafen

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Für sie beginnt der Arbeitstag, wenn andere Feierabend machen: Nachtarbeiter erzählen, wie es ist, im Limmattal die Nacht hindurch zu arbeiten.

Er geht, wenn andere heimkommen

Würde Thomas Weber nur am Tag arbeiten, wären die öV-Nutzer im Limmattal alles andere als begeistert. Denn für seine Arbeit als Gleismonteur bei den SBB werden jeweils die Gleise gesperrt. «Zuletzt arbeiteten wir während mehrerer Monate in Schlieren», sagt der 29-Jährige.

Dort mussten neue Gleise verlegt und die Schotterunterlage erneuert werden, damit 30 Prozent mehr Verkehr über die Schienen fahren kann. Das heisst konkret, die einzelnen Strecken wurden gesperrt und pro hundert Meter wurden zig Tonnen Schotter unter die Gleise gefüllt.

«Vor fünf Jahren war ich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.» Diese fand Weber als Sicherheitsbeauftragter bei den Gleismonteuren der SBB. Das beinhaltet nebst Tages- auch Nacht und Pikettdienste.

«Für mich ist der Unterschied nicht sehr gross», sagt er. Im Gegenteil: Es sei manchmal sogar praktisch, in der Nacht zu arbeiten, wenn es ein wenig ruhiger sei. Bei Problemen müsse man aber einfallsreich sein: «Zum Beispiel, wenn eine Baumaschine mitten in der Nacht ausfällt.»

Auch körperlich spürt Weber keinen grossen Unterschied zwischen Tag- und Nachtarbeit. «Einzig mein Kreislauf kommt beim Sport ein wenig langsamer in die Gänge, wenn ich Nachtschicht habe», sagt er. Doch da reagiere jeder anders und müsse seine Strategie finden, wie er mit der Situation umgehe.

Die Nachtschichten haben Webers Lebensrhythmus verändert. Vereine kann er nicht mehr besuchen, «einzig das Gym, das geht.» Das Schlimmste sei aber der Abend, der Moment, wenn die anderen Feierabend haben und er sich von seinem Sofa erheben muss, um den Arbeitsweg anzutreten.

«Wenn ich dann dort bin, ist es ein normaler Arbeitstag», sagt Weber. Als Erstes stellt er das Werkzeug bereit und trinkt einen Kaffee. Danach wird das Gleis, an welchem die Arbeiter hantieren, abgesperrt. Es sei dabei wichtig, auf den Sicherheitsfachmann zu hören. Dieser wisse, wann die Züge anbrausen. Diese haben eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometer. «Bisher passierte in meiner Schicht noch kein Unfall.»

Gegen zwei Uhr morgens gebe es jeweils eine Pause. Zeit für einige der Arbeiter, einen Burger zu verdrücken. Doch Weber hat keinen grossen Appetit in der Nacht: «Ich esse an diesen Tagen nur ein bis zweimal. Dazwischen gönne ich mir ein Gipfeli oder etwas anderes Ungesundes.»

Ein Bürojob wäre besser

Sobald Weber zu Hause ist, geht er schlafen. «Ich brauche jeweils meine acht Stunden Schlaf. Das heisst, ich bin erst wieder gegen vier Uhr nachmittags wach», sagt er. Das sei nicht immer so praktisch. Gerade der Kinder und seiner Frau wegen. Der Alltag der Familie ist unter den wechselnden Schichten schwierig zu planen. Vor diesem Job arbeitete er tagsüber.

Wie lange er die Gleise auch noch in der Nacht flicken will, ist offen für ihn: «Wenn ich einen Bürojob erhalte, wäre das sicher auch gut, besonders wenn die Kinder älter werden.»

Nachts auf Wache

Der ehemalige Polizist Qazim Qupevay aus dem Kosovo kennt die verschiedenen Gesichter und Gestalten, die sich in der Nacht in Dietikon umhertreiben. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Geschäftsgebäude jeden Abend geschlossen werden und noch unbeschadet dastehen, wenn die Büroleute am nächsten Tag wieder zur Arbeit kommen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Angestellte der Firma Outsec längst wieder zu Hause.

Durch Schul- und Firmenareale patrouillieren, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, das klingt respekteinflössend, doch der zweifache Familienvater mit dem freundlichen Lächeln kommt ohne viele Worte aus: «Es kommt sehr darauf an, wie man den Menschen begegnet. Wenn ich ruhig bin, sind sie ebenfalls ruhig.» Mit dieser Haltung habe er schon viele Situationen entschärfen können.

Den Pfefferspray, der zur Grundausstattung der Sicherheitsfachleute gehört, hat der 48-Jährige in den letzten drei Jahren, in denen er in der Nacht arbeitet, noch nie gebraucht. Auch die Handschellen klickten bei ihm noch in keinem Fall: «Diese haben wir dabei, falls wir jemanden festhalten müssen, bis die Polizei kommt.»

Fahrt durch leere Strassen

Auch wenn Qupevay auf seinen Runden alleine ist, die Pause verbringt er jeweils mit seinen Arbeitskollegen. Doch da dürfe er sich jeweils nicht zu lange hinsetzen, sonst spüre er die Müdigkeit umso stärker, wenn er wieder aufstehen müsse. «Die schlimmste Zeit ist die vor dem Sonnenaufgang.» Dann muss er besonders gegen den Schlaf kämpfen.

Doch die Nacht habe auch schöne Seiten: Qupevay geniesst besonders die Ruhe und die freie Fahrt durch die Strassen. Trotzdem ist die Nachtarbeit eine zunehmende Belastung für seinen Körper. Insbesondere der Schlaf fehle ihm. «Ich kann manchmal schwer einschlafen», sagt er. Zudem seien auch die sozialen Kontakte schwieriger mit der Nachtarbeit zu vereinbaren. «In der Familie leben wir manchmal aneinander vorbei.»

Die Abendstunden sind auch Plauderzeit

Sie ist bereits seit zehn Jahren in der Nacht unterwegs, trotzdem sagt Pflegefachfrau Yvonne Riedel: «Jede Nacht ist anders.» Die 42-Jährige arbeitet im Alters- und Pflegeheim Senevita im Limmatfeld in Dietikon.

Sie habe schon viel Lustiges und Erfreuliches erlebt mit ihren Bewohnern. «Sie freuen sich jeweils, wenn es Nacht ist und man Zeit hat zum Reden.» Doch es könne auch zu schwierigen Situationen kommen. Das erlebte Riedel etwa bei einem früheren Arbeitgeber: «Da hatte ich in der Nacht einen Suizidfall.» Das habe sie natürlich mitgenommen. In ihrem Job müsse man auf alles gefasst sein. Trotzdem habe sie keine Angst, in der Nacht zu arbeiten. «Das ist auch wichtig, denn man muss die Ruhe bewahren und Sicherheit vermitteln können», sagt sie.

Riedel gehört zu den Arbeitnehmenden, die in der Dauernachtwache arbeiten. Das heisst, sie arbeitet bei einem Pensum von 100 Prozent 16 Nächte pro Monat. «Das ist viel besser als der Schichtenwechsel, das war körperlicher Raubbau», sagt sie.

Nicht nur sie als Morgenmuffel, sondern auch ihre Familie profitiert von der Nachtarbeit. «Mein Mann ist selbstständig, so können wir uns gut organisieren und ich konnte immer bei den Kindern sein, wenn etwas war», sagt die zweifache Mutter. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie mit der Nachtarbeit startete.

Bereit für Unerwartetes

Das Abendessen um 19 Uhr nimmt sie jeweils noch mit der Familie ein. Danach geht es los ins Senevita Limmatfeld. Nach der Übergabe des Spätdienstes an die Nachtschicht um 20.50 Uhr übernimmt Riedel gemeinsam mit einer Arbeitskollegin die Verantwortung für 50 Bewohner.

Auf der ersten Runde durch die Zimmer sind viele Senioren noch wach und freuen sich, einen kurzen Schwatz zu halten. Dann können sie von ihrem früheren Leben erzählen und wie sie mit der neuen Situation im Pflegeheim zurechtkommen.

Doch auch die Nacht ist klar durchstrukturiert: Es gibt Ämtli zu erledigen, wie die Dokumentation von Pflegeleistungen. Alle zwei Stunden macht Riedel zudem eine Runde durch die Zimmer und sieht nach dem Rechten. Zudem kommen noch die Bewohner hinzu, die klingeln und Notfälle, die den Ablauf durchbrechen.

«Die ersten Stunden gehen jeweils wie im Flug vorbei», sagt sie. Irgendwann um zwei Uhr nachts hat sie Zeit, einen Kaffee zu trinken und sich hinzusetzen. Bald schon kommt jedoch die nächste Runde oder sie trifft auf einen Bewohner, der aufgrund seiner Demenz nachtaktiv ist. «Die Gründe für die Schlaflosigkeit sind unterschiedlich. Ein Bewohner erzählte mir beispielsweise, er sei Barkeeper gewesen, da verstand ich natürlich auch, weshalb er nicht schlafen konnte», sagt Riedel.

Zum Zmorgen zu Hause

Nur allzu schnell werde es dann 5 Uhr. Das ist die Zeit, in der die ersten Frühaufsteher unter den Bewohnern bereits wieder fit sind. Sie erhalten einen Kaffee oder ein Tee. Die Pflegefachfrau zieht ihnen die Stützstrümpfe an und gibt ihnen die benötigten Medikamente.

«Wenn ich heimkomme, reicht es dann jeweils gerade noch, ein ‹Brötli› mit meinen Kindern zu essen, bevor sie in die Schule gehen.» Danach ist definitiv Zeit zum Schlafen für Riedel. Eine Einschlafhilfe brauche sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. «Ich bin jeweils so müde von der Arbeit, dass ich rasch einschlafe.»

Dieser Beitrag erschien erstmals am 11. November in der Limmattaler Zeitung.

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