Claudia Wiederkehr ist die leitende Staatsanwältin der Bezirke Dietikon, Affoltern am Albis und Horgen.
Volle Untersuchungsgefängnisse, harte Haftbedingungen und überlastete Staatsanwälte, immer wieder wird die Justiz infrage gestellt. Die Limmattaler Zeitung ging jüngst einigen Vorwürfen nach. Dabei sprach sie mit Anwälten, einem Ersatzrichter und einem Häftling. Nun will die Staatsanwaltschaft ihre Sichtweise auf die Dinge darlegen. Claudia Wiederkehr, leitende Staatsanwältin der Bezirke Dietikon, Affoltern am Albis und Horgen sagt, wie sie bei der Arbeit mit Unsicherheiten umgeht und wie das Bauchgefühl ihre Entscheide beeinflusst.
Am Anfang steht ein Tatverdacht. Etwa ein Foto eines Diebes oder eine Aussage eines Opfers, das bei der Polizei Anzeige erstattete. Danach kommt die Staatsanwaltschaft ins Spiel. Wie gehen Sie vor?
Claudia Wiederkehr: Nach der polizeilichen Verhaftung prüft die Staatsanwaltschaft, ob ein dringender Tatverdacht und Haftgründe vorliegen. Das ist oft eine etwas hektische Phase, weil dafür laut Gesetz ab dem Zeitpunkt der Verhaftung nur 48 Stunden zur Verfügung stehen. In einer Einvernahme hat die beschuldigte Person die Gelegenheit, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen. Noch vor Ablauf der Frist entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob sie beim Zwangsmassnahmengericht Antrag auf Untersuchungshaft oder auf Ersatzmassnahmen stellt oder ob sie die Person auf freien Fuss setzt.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob das eine oder andere geschieht?
Entscheidend ist, wie sich die Beweislage so kurz nach der Festnahme präsentiert, beispielsweise worauf der Tatverdacht gründet und ob es allenfalls Spuren oder Zeugen gibt.
Wie entscheiden Sie bei unsicherer Beweislage?
In der grossen Mehrheit der Fälle zeichnet sich nach der Einvernahme relativ klar ab, ob die Voraussetzungen für die Untersuchungshaft gegeben sind oder ob sich eine Freilassung rechtfertigt. Ob die Haft tatsächlich angeordnet wird, entscheidet aber immer ein unabhängiges Gericht und nicht die Staatsanwaltschaft.
Welche Gründe gibt es eine Untersuchungshaft anzuordnen?
Neben dem dringenden Tatverdacht sind dies Flucht,- Kollusions-, Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr.
Weshalb hat die Fluchtgefahr oft ein so grosses Gewicht?
Eine erhöhte Fluchtgefahr besteht insbesondere bei Beschuldigten, die keinen festen Wohnsitz in der Schweiz haben. Wir wollen verhindern, dass sie sich durch eine Flucht ins Ausland der Strafverfolgung und der Strafe entziehen.
Der Fluchtgefahr könnte doch mit einer einfachen Ausweis- und Schriftensperre begegnet werden?
Je nach Konstellation ist das durchaus eine sinnvolle Ersatzmassnahme. Allerdings bietet sie in vielen Fällen keine absolute Sicherheit. Wenn sich eine Person um jeden Preis ins Ausland absetzen will, so hindert sie auch eine Ausweis- und Schriftensperre nicht daran.
Ersatzmassnahmen wären eine günstige und wesentlich weniger einschneidende Option für Beschuldigte. Sie könnten laut dem Dietiker Ersatzrichter Adrian Bigler öfter angewendet werden.
Wenn ein Zwangsmassnahmengericht einen Haftantrag der Staatsanwaltschaft als unverhältnismässig erachtet, kann es stattdessen jederzeit Ersatzmassnahmen anordnen. Ich möchte betonen, dass die Staatsanwaltschaft auch in eigener Kompetenz Ersatzmassnahmen anordnet; alleine bei Verfahren von Häuslicher Gewalt hat sie 2022 kantonsweit rund 180 Ersatzmassnahmen in der Form von Lernprogrammen angeordnet.
Die Realität zeigt doch, dass die Gerichte die Haftanträge der Staatsanwaltschaft grossmehrheitlich durchwinken. So gaben die Richter am Bezirksgericht Zürich von 673 Anträgen 607 grünes Licht und in Dietikon wurde in 36 von 43 Fällen ein Antrag auf Untersuchungshaft gutgeheissen.
Solche Zahlen zeigen eben, dass die Staatsanwaltschaft das Instrument der Untersuchungshaft umsichtig anwendet. Wir beantragen Untersuchungshaft nur in jenen Fällen, bei denen das aus unserer Sicht absolut unumgänglich ist. Entsprechend teilt das Gericht offensichtlich sehr häufig unsere Einschätzung. Einer beschuldigten Person steht zudem das Recht zu, jederzeit ein Haftentlassungsgesuch zu stellen.
Diese werden aber in den meisten Fällen abgelehnt. Am Bezirksgericht Zürich wurden von 95 Haftentlassungsgesuchen 6 gutgeheissen in Dietikon waren es von 9 lediglich 3.
Auch hier könnte die hohe Ablehnungsquote darauf hindeuten, dass die Staatsanwaltschaft sorgfältig arbeitet und nur dann Untersuchungshaft beantragt, wenn die nötigen Voraussetzungen auch gegeben sind. Die unter hoher Arbeitslast stehende Staatsanwaltschaft hat alleine schon deshalb keinen Anreiz, leichtfertig Untersuchungshaft zu beantragen, weil Untersuchungshaft im Gegensatz zu Ersatzmassnahmen oder Haftentlassungen deutlich mehr Arbeit verursacht.
In den vergangenen Monaten wurde auch die hohe Arbeitsbelastung der Staatsanwälte zum Thema. Merken Sie diese in Dietikon ebenfalls?
Die Falleingänge in der Region Limmattal/Albis haben drastisch zugenommen, allein zwischen 2021 und 2022 um über 13 Prozent. In diesem Einzugsgebiet haben wir einen starken Bauboom, einen Einwohnerzuwachs und somit potenziell auch mehr Delikte.
Kommt jemand in Untersuchungshaft, ist dies ein starker Einschnitt ins Leben. Wie kann sich die beschuldigte Person gegen die Untersuchungshaft wehren?
Jede beschuldigte Person kann nach der Verhaftung sofort einen Anwalt beiziehen und spätestens nach zehn Tagen in Haft erhält sie zwingend einen Verteidiger. Zudem können Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts vom Beschuldigten jederzeit an das Obergericht weitergezogen werden.
Was geschieht, wenn sich im Laufe eines Strafverfahrens herausstellt, dass eine Person zu Unrecht in Untersuchungshaft war.
Dass sich eine Untersuchungshaft im Nachhinein als ungerechtfertigt erweist, kommt zum Glück selten vor. Niemand hat ein Interesse, dass Unschuldige zu Unrecht in Haft sind. Wenn das trotzdem passiert, ist gemäss aktueller Rechtsprechung eine Genugtuung von in der Regel 200 Franken pro Tag zu entrichten.
Die Staatsanwaltschaft steht immer wieder in der Kritik, dass Verfahren zu lange dauern und Beschuldigte zu lange auf ein Urteil warten müssen.
Beschuldigte und Verteidiger sind oft mitverantwortlich für Verfahrensverzögerungen. So schöpfen viele Verteidiger die Rechte ihrer Klienten bis zum Letzten aus. So wollen Betäubungsmittelhändler beispielsweise oft, sofort ihr Handy siegeln lassen, sodass die Polizei dessen Inhalt nicht sofort auswerten und mögliche Drogenlieferanten eruieren kann. Bis das Gericht entschieden hat, ob die Strafverfolger den Inhalt der Sprachnachrichten trotzdem anschauen dürfen, kann es locker mehrere Monate gehen, in denen die Polizei nicht weiterarbeiten kann.
Sie haben tagein, tagaus mit menschlichen Abgründen zu tun. Wie veränderte sich ihr Menschenbild in den letzten Jahren?
Nach Hunderten von Einvernahmen entwickelt man ein Sensorium für Menschen und deren Verhalten. Man wird kritischer, wenn jemand etwas sagt. Wir hinterfragen Aussagen und glauben nicht jede Story unbesehen.
Gibt es ein Bauchgefühl, das hilft?
Ja, das spielt sicher eine Rolle, aber nicht nur. Die harten Fakten sind wichtiger. Ich erinnere mich an einen Fall zu Beginn meiner Tätigkeit als Staatsanwältin, bei welchem dem Beschuldigten sexuelle Handlungen mit Kindern vorgeworfen wurde und ich beim Aktenstudium gedacht habe «Was für ein Monster!» Als ich dann den Beschuldigten bei der Einvernahme zum ersten Mal traf, sass nicht der Mensch vor mir, den ich mir aufgrund der Akten vorgestellt hat, sondern eine Person, die unser aller Nachbar sein könnte.
Wie kann man trotz emotional aufwühlender Geschichten noch sachlich entscheiden?
Die Wahrheitsfindung ist das, was uns Strafverfolger antreibt. Gerade weil die Geschichten emotional sind, ist ein sachlicher und respektvoller Umgang mit allen Beteiligten wichtig.
Ein Artikel aus der „Limmattaler Zeitung“.