«Sachen entsorgen kann zu einer Art Sucht werden»: Ordnungscoach und Ex-Messie über Kaufrausch und Kleiderberge

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Sie geraten sich trotz unterschiedlicher Sauberkeitsstandards nicht in die Haare. Die Präsidentin des Dietiker Messie-Vereins und ihr Mann, ein ehemaliger Messie, erklären, wie das geht.

Dieser Artikel erschien am 28.02.2024 in der „Limmattaler Zeitung“.

Lydia Lippuner

Ordnungscoach Esther Schippert (Präsidentin) und ihr Mann Jan Schippert (Vorstandsmitglied) sind Gründer des
Die Präsidentin des Messie-Vereins Esther Schippert lebt gemeinsam mit ihrem Mann, Jan Schippert, einem ehemaligen Messie, in einer Altbauwohnung in Dietikon. Bilder: Sandra Ardizzone

Betritt man die Altbauwohnung in Dietikon, steht man direkt unter einer Discokugel, die das Licht in alle Ecken des Eingangs reflektiert. In der Stube steht ein schwarzer Kontrabass, vor dem Schlafzimmer ein Sessel und in der Ecke dreht sich eine farbige Lampe. Der Besucher merkt schnell, dass bezüglich der Einrichtung hier nichts dem Zufall überlassen wurde. Esther Schippert ist Ordnungstrainerin und hat den Messie-Verein gegründet, um für das Messie-Syndrom zu sensibilisieren. Im Gespräch erklären Esther Schippert und ihr Mann, ein ehemaliger Messie, wie sie gemeinsam Ordnung halten und wie man vom Messie zum Minimalisten werden kann.

Bei vielen Paaren kann Ordnung zum Streitpunkt werden. Sie sind Ordnungscoach und Ihr Mann ehemaliger Messie. Wie halten Sie in Ihrem gemeinsamen Haushalt Ordnung?

Esther Schippert: Indem ich nichts mehr anhäufe. Wenn alles überschaubar ist, brauche ich nichts aufzuräumen. Es ist die Masse, die es einem so schwer macht. Wir haben beispielsweise gar nicht so viel Geschirr. Ich kann deshalb nicht eine ganze Woche mit dem Abwasch zuwarten.

Jan Schippert: Es gibt Dinge, die mache ich nicht gerne. Etwa aufräumen, waschen und vor allem Socken sortieren. Es ist einfach langweilig. Mein Hirn will Langeweile verhindern. Deshalb brauche ich ein paar Tricks.

Beispielsweise?

Jan Schippert: Ich sortiere meine Socken nicht mehr. Ich habe einfach eine Marke, alle sind schwarz und haben dieselbe Länge. Überhaupt trage ich viel Schwarz.

Sie leben bereits zwanzig Jahre zusammen. Haben Sie heute denselben Sauberkeitsstandard?

Jan Schippert: Nein.

Esther Schippert: Nein.

Wer passt sich denn nun wem an?

Jan Schippert: Es ist ein wenig ein Kompromiss.

Esther Schippert: Ich rege mich nicht mehr auf, sondern räume einfach auf.

Jan Schippert: Wir machen beide unsere Wäsche separat. Und ich erledige die Entsorgung. Es ist fast schon klassisch.

Esther Schippert: Das ist ja nicht schlimm, ich habe einfach eher das Bedürfnis, einen Lappen in die Hand zu nehmen.

Dann räumen Sie für beide auf?

Esther Schippert: Früher habe ich mich aufgeregt, wenn etwas meinen Standards nicht entsprach. Dann habe ich die Leute drangsaliert. Das würde ich heute nicht mehr machen.

Wie hat sich das geändert?

Esther Schippert: Wenn mich etwas stört, räume ich es einfach selbst auf. Ich nehme das Ordnungsempfinden meines Gegenübers nicht mehr persönlich und übernehme Eigenverantwortung.

Wie ist es für Sie, mit jemandem zu leben, der einen anderen Ordnungsstandard hat?

Jan Schippert: Es ist dem Frieden zuliebe besser, wenn man sich ein wenig nach oben anpasst. Sie drückt ein Auge zu, und mir ist es wohler, wenn ich mich ein wenig anstrenge und auch einmal den Staubsauger in die Hand nehme. Aber wir legen nichts auf die Goldwaage.

Esther Schippert, Sie bezeichnen sich als kreativen, freiheitsliebenden Menschen. Wie kamen Sie dazu, Ordnungscoach zu werden?

Esther Schippert: Ich habe vor 20 Jahren in der Spitex gearbeitet und kam damals mit Messies in Kontakt. Ich merkte, wie überfordert die Organisationen waren. 2016 wollte ich mich beruflich neu orientieren und habe eine Coaching-Ausbildung gemacht. Später lernte ich das Konzept des Minimalismus kennen. Das hat mir viel geholfen.

Jan Schippert, auch Sie sind derzeit im Messie-Verein tätig. Auf der Website sind Sie als ehemaliger Betroffener aufgelistet. Wie kamen Sie vom Messie-Syndrom los?

Jan Schippert: Ich merkte, dass mir nicht wohl ist in meinem Puff. Selbst wenn niemand zu Besuch kam. Ich habe mich ständig selbst verurteilt.

Wie ging es weiter?

Jan Schippert: Manchmal habe ich es geschafft, Ordnung zu machen, dann wurde die Wohnung wieder begehbar. Das war gut für meine Seele und mein Wohlbefinden. Dann ging es wieder bergab. Dieses Wechselbad habe ich mehrmals durchgemacht.

Irgendwann haben sie es geschafft. Sie wurden vom Messie zum Minimalisten. So haben Sie zeitweise nur 250 Dinge besessen.

Jan Schippert: Ja, den letzten Kick erhielt ich, als Esther sagte, sie ziehe bei mir ein. Da wusste ich, dass es so nicht mehr weitergehen kann.

Esther Schippert: Wir haben dann beide aufgeräumt.

Das heisst, sie haben beide ausgemistet?

Esther Schippert: Ja, als Fotografin hatte ich Kleider in allen Grössen. Eines Tages brach meine Kleiderstange. Als ich eine neue organisieren musste, merkte ich, dass ich das nicht mehr will. So begann ich, vieles wegzugeben.

Jan Schippert: Sachen loszuwerden und zu entsorgen, kann zu einer Art Sucht werden. Zuvor hatten beispielsweise Geschenke von Kindern einen fast heiligen Wert. Beim Entrümpeln haben wir einfach Fotos davon gemacht und sie weggeworfen. Tatsächlich hat nie eine Nichte gefragt, wo das WC-Papierrollen-Schlagzeug ist, das sie mir bastelte.

Ordnungscoach Esther Schippert (Präsidentin) und ihr Mann Jan Schippert (Vorstandsmitglied) sind Gründer des

Kam der Kaufrausch oder der Wunsch, etwas zu horten, nie mehr zurück?

Jan Schippert: Wenn ich länger allein bin, dann merke ich, es könnte wieder solche Tendenzen geben. Aber es handelt sich dann jeweils um einen kleinen Hügel und nie mehr einen Berg wie früher.

Wenn Sie lediglich drei Sachen behalten dürften. Welche wären das?

Esther Schippert: Mein Computer und die Festplatten mit den Bildern. Auf den Rest kann ich locker verzichten.

Jan Schippert: Ich mag meine Campingausrüstung, den Schlafsack und die Hängematte. Aber das ist eigentlich auch nicht zwingend.

Esther Schippert: Verlustangst kenne ich eigentlich nicht mehr. Man kann ja alles wieder kaufen. Und weil ich psychisch aufgeräumt bin, hänge ich beispielsweise nicht mehr an einer Babysocke, die mir meine Mutter gestrickt hat. Da ich keine Emotionen mehr zu Gegenständen habe, kann ich sie loslassen.

Wie kommt man dazu, dass man an nichts mehr hängt?

Esther Schippert: Ich habe mich jeweils gefragt, welches innere Loch ich mit diesen Dingen stopfen will.

Und?

Esther Schippert: Ich habe als 18-Jährige beispielsweise eine Skulptur gemacht. Diese hat mich immer daran erinnert, dass ich ein kreativer Mensch bin. Deshalb habe ich sie von WG zu WG gezügelt. Immer wenn ich eine Schaffenskrise hatte, habe ich sie angeschaut. Nun habe ich sie verschenkt. Ich brauche sie nicht mehr, ich muss mir nicht mehr beweisen, dass ich ein kreativer Mensch bin.

Ordnungscoach Esther Schippert (Präsidentin) und ihr Mann Jan Schippert (Vorstandsmitglied) sind Gründer des
Räumen zusammen auf und schaffen gemeinsam Neues: Esther und Jan Schippert haben das grosse Bild (links) gemeinsam gemalt.

Bild: Sandra Ardizzone

War es bei Ihnen ähnlich?

Jan Schippert: Ich denke, loslassen ist eine Übungssache. Nichts hält ewig. Von allem, was ich weggegeben habe, kommen mir nur zwei Sachen in den Sinn, die ich heute noch gerne hätte.

Nun steht kaum mehr etwas zu viel in Ihrer Wohnung. Was bedeutet Ordnung für Sie?

Esther Schippert: Ordnung heisst Ruhe, Frieden, Flexibilität, Freiheit.

Jan Schippert: … und hilft auch Sachen zu finden.

Besonders beim Umziehen macht sich Ordnung oder eben Unordnung bemerkbar. Wie viele Male sind Sie schon umgezogen?

Esther Schippert: Fünfmal innert zwanzig Jahren.

Das tönt nach viel Erfahrung. Bald ist wieder offizieller Zügeltermin, welchen Tipp können Sie weitergeben?

Jan Schippert: Nichts mitnehmen, was man nicht braucht. Man sollte schon vor dem Zügeln entsorgen.

Esther Schippert: Es ist ein No-Go, wenn jemand am Zügeltag noch nicht fertig gepackt hat.

Jan Schippert: Und es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass man nur unter 35-Jährige fragen sollte, ob sie beim Zügeln helfen.

 

Sie bringt Ordnung ins Chaos

Wenn Esther Schippert in eine Messie-Wohnung kommt, macht sie als Erstes gar nichts. Das heisst, sie mache sich erst einmal ein Bild vom Schweregrad der Vermüllungssituation und höre einfach zu, sagt sie.

«Zwei Drittel meiner Arbeit machen den Beziehungsaufbau aus. Denn Messies sind oft sehr schambelastet», sagt die Dietiker Ordnungstrainerin. Es falle vielen schwer, jemanden in die vermüllte Wohnung zu lassen. Aus diesem Grund hat Schippert im September 2023 einen Verein gegründet. Der Dietiker Messie-Verein will aufklären und den Betroffenen die Gelegenheit geben, sich auszutauschen und Unterstützung zu bekommen.

Seit über zwanzig Jahren begleitet Schippert Männer und Frauen, die eine vermüllte Wohnung haben. Es gebe kaum noch eine Wohnung, die sie schockieren könne. Lediglich bei vergammeltem Poulet werde es ihr noch übel, sagt sie. Überhaupt sei das Essen ein schwieriges Thema: «Wenn man Dutzende 35-Liter-Abfallsäcke Essen aus einer Speisekammer trägt und wegwirft, ist das sehr schade», sagt sie. Dass sie aus einem sehr sparsamen Elternhaus komme, mache dies nicht einfacher. Ansonsten habe sie wenig Berührungsängste. «Die Messies sind weder dumm noch faul, wie es das Klischee besagt», meint Schippert. Im Gegenteil, viele seien sehr intelligent, berufstätig und sozial unauffällig. Gemäss Schippert haben viele Betroffene harte Schicksalsschläge, etwa den Verlust eines Partners, eine Krankheit oder Gewalt in der Familie, erlitten.  Die Unordnung sei wie ein Schutzschild, den sie vor sich herschieben würden. Unordnung sei ein Symptom. Oft erkenne man von aussen auch nicht, dass eine Person ein Messie-Syndrom habe.

Schippert erzählt von einer jungen Frau, die ein Burn-out erlitten habe. Während dieser Zeit sei sie zu einem Messie geworden. Die Pandemie habe die Erkrankung zusätzlich verstärkt. Ihre ganze Wohnung sei zugemüllt gewesen, ausser einer kleinen Ecke. In dieser habe die Frau regelmässig Instagram-Bilder geknipst. Als ihr Freund nach zwei Jahren Beziehung endlich einmal ihre Wohnung sehen wollte, rief die Frau verzweifelt bei der Ordnungstrainerin an. «Wir haben die Wohnung aufgeräumt. Durch das Aufräumen merkte die Frau, dass sie das ja noch kann», erzählt Schippert. Sie sei später zu ihrem Freund gezogen und habe danach wieder ein geordnetes Leben führen können. «Oft braucht man ein wenig Druck, damit es wieder geht», sagt Schippert.

Der Weg aus dem Messie-Syndrom sei aber langwierig. Und es gehöre dazu, dass man sich mit den zugrunde liegenden Problemen beschäftigen müsse. «Die Betroffenen müssen wieder lernen, dass sie jemand sind», sagt Schippert. Man müsse wieder ein Selbstwertgefühl aufbauen. Aus diesem Grund räume sie jeweils bei ihren Hausbesuchen nicht zuerst die Stube auf, sondern beginne mit dem Schlafzimmer. Denn das sei der persönlichste aller Räume.

Dieser Artikel erschien am 28.02.2024 in der „Limmattaler Zeitung“.

 

 

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