Federike Hoffmann wurde in der Tschechoslowakei inhaftiert – vor 50 Jahren flohen sie und ihr Ehemann mit ihrem Sohn in die Schweiz.
Die Wohnung ist leicht abgedunkelt, an der Wand hängt ein Bild des zerstörten Prags. «Wir nutzten den schmalen Spalt im Eisernen Vorhang und flüchteten am 27. September 1968 in die Schweiz, sonst wären wir ins Gefängnis gewandert», sagt Federike Hoffmann. Hinter der 83-jährigen Dietikerin hängt das Porträt ihres Mannes. Er lächelt, in der Hand hält er locker eine Pfeife. Die übrige Dekoration der Wohnung ist eine Mischung aus Jazzskulpturen, Gemälden und Kruzifixen. Ihr Mann war Künstler und Theologe, er verstarb vor sechs Jahren. «Er war ein edler Mensch, als er starb, konnte ich während zweier Jahre mit niemandem mehr reden», sagt sie. Heute sprudeln die Worte umso schneller aus ihrem Mund.
«Wir kämpften für die Demokratie, sie war unser Ziel», sagt sie. Ihr Mann arbeitete für die christdemokratische Partei. Sie arbeitete für die verbotenen Pfadfinder. Beide waren für ihre Tätigkeiten als «politische Häftlinge» inhaftiert. Federike Hoffmann war nicht nur fünf Jahre in kommunistischer Haft, sie durfte auch ihr Elektrotechnikstudium nicht beenden. «Sie sagten, ich könne nur weiter studieren, wenn ich in die sozialistische Jugend eintrete.» Als Antwort habe sie auf dem Absatz kehrtgemacht, die Türe hinter sich zugeknallt und sich weiter für die Pfadfinder engagiert.

Der Prager Frühling, einige Jahre nach ihrer Haft, war das für das junge Ehepaar wie ein nicht mehr endendes Fest. «Es gab Debatten im Fernsehen, die Leute waren offen und verloren ihre Angst», sagt sie. «Doch der Aufbruch war noch jung und die neugewonnene Freiheit nach 20 Jahren Unterdrückung noch fragil.» Die Leute mussten erst wieder lernen, zu ihren Überzeugungen zu stehen.
Panzer rollten aus Flugzeugen
Während in der Schweiz und in westlichen Ländern durch Demonstrationen langfristige Veränderungen in der Gesellschaft angezettelt wurden, war das Aufblühen in Prag 1968 nur von kurzer Dauer. Im Frühling flogen die Russen ein. «Ich hörte ein Brummen über der Stadt, Dutzende Panzer rollten aus den Flugzeugen und verstopften die Strasse.» Der Kreml schickte 700’000 russische Soldaten nach Prag, um die Gegenrevolution zu bekämpfen. Um diese zu verwirren, hätten ihre Landsleute die Strassenschilder abmontiert, sagt Hoffmann. Schnell sei jedoch den meisten klar geworden, dass sich niemand um die zivile Bevölkerung kümmern werde und sie sich selbst schützen mussten. «Der Einmarsch der Truppen auf fremdem Gebiet wurde von den meisten Behörden widerspruchslos toleriert.» Überdies hätten die Russen selbst nicht gewusst, was sie genau niederschlagen sollten. «Selbst in den Ämtern herrschte ein Chaos.»

Viele nutzten die allgemeine Verwirrung aus und konnten dank eines gefälschten Briefes ein Visum für die Einreise nach Österreich ergattern. «Wären wir nicht geflohen, wären wir wieder inhaftiert worden, wie viele andere», sagt Hoffmann. Schlimmer noch, dieses Mal wäre auch ihr einjähriges Kind davon betroffen gewesen. «Sie hätten unseren Sohn zur Adoption freigegeben.» Von dieser Angst getrieben, reisten sie schliesslich von Österreich über Deutschland in die Schweiz ein. Dort erwarteten sie ihre Eltern sowie andere Angehörige. Anfangs seien sie mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Hotel in Uznach untergebracht worden. Zu dieser Zeit hat die Schweiz rund 13’000 Migranten aus der damaligen Tschechoslowakei aufgenommen. Doch es dauerte nicht lange, da war die Familie selbstständig. «Nach 13 Tagen hatte mein Mann bereits eine Arbeitsstelle», sagt Hoffmann. Sie selbst sei zu Hause geblieben.
Als sie in die Schweiz kamen, kümmerten sich viele um sie. «Hier erhielten wir ein wenig Geld, da etwas Süsses, die Leute wurden sogar in der Kirche angehalten, sich um die Flüchtlinge zu kümmern.» Wenige Jahre nach ihrer Ankunft zog die nun vierköpfige Familie nach Dietikon.
Angst vor Spitzeln in der Schweiz
Mit der Einschulung der Kinder merkte die Familie jedoch auch, was es heisst, fremd zu sein. «Meine Kinder gingen zu einer Zeit zur Schule, als sie noch die einzigen Ausländer in der Klasse waren.» Einmal sei der jüngere Sohn mit Würgemalen am Hals nach Hause gekommen. Da wurde es der Mutter zu bunt. «Ich sagte den Eltern und Lehrern, was geschehen war, jedoch ohne den Namen des Raufbolds zu nennen», sagt sie. Lange habe sich ihr Sohn geweigert, zurück in die Schule zu gehen. Die Mutter begleitete ihn daraufhin in die Schule, bis schliesslich eine Pausenaufsicht eingestellt worden sei.
Insgesamt sei die Familie jedoch ohne grosse Anstrengung mit der hiesigen Kultur verschmolzen. «Das ist das Spezielle an einem Tschechen. Wenn er einen Landsmann sieht, läuft er weg.» Selbst zu einer Bekannten, die ebenfalls in der Schweiz wohnt, hatten Hoffmanns in den 20 Jahren kommunistischer Herrschaft nach dem Prager Frühling keinen Kontakt. «Zu gross war die Angst, dass man verraten oder zum Spitzel erklärt wird», so Hoffmann. Gegen ebendiese Angst und für eine freie Demokratie kämpfte sie. Auch in der Schweiz war sie aktiv. Federike Hoffmann arbeitet im Verein ehemaliger politischer Häftlinge aus der Tschechoslowakei. Dieser hatte rund 160 Mitglieder aus aller Welt. Hoffmann kämpfte dabei nicht nur für die Demokratie in ihrem Heimatland. «Seit ich in der Schweiz wählen kann, habe ich keinen Abstimmungstermin verpasst», sagt sie. Als eine Nachbarin eines Tages klagte, sie stimme nicht mehr ab, es lohne sich ja doch nicht, sagte Hoffmann nur: «Es geht doch gar nicht darum, dass du nur siegst, sondern darum, dass du mitreden kannst.» In der Tschechoslowakei sei sie eine Sklavin ohne jegliches Mitspracherecht gewesen.
Sobald der Eiserne Vorhang fiel, ging Hoffmann mit ihrem Mann ihr Geburtsland besuchen, die Kinder liessen sie zur Sicherheit in der Schweiz. Man spürt ihr heute noch das Entsetzen über diesen Besuch ab: «Es sah aus wie auf einem verlassenen Friedhof.» Der Unterschied zu ihrem Abschied 1968 sei riesig gewesen. Alljährlich besucht sie seither das Land. Dieses erhole sich stetig von der langjährigen Unterdrückung. Ihr langjähriger Kampf hat sich gelohnt: Das Ministerium der Verteidigung würdigte ihren Einsatz gegen den Kommunismus und für die Demokratie mit einer Veteranenurkunde. Trotzdem will sie nicht zurück, die Schweiz sei nun ihre Heimat. «Hier wurden die Kinder ausgebildet und hier entwickelte sich unsere Familie», sagt Hoffmann. «Für die Tschechei hoffe ich, dass die neue Generation nun wirklich beginnt, Demokratie zu leben.»
Dieser Artikel erschien erstmals am 8. September 2018 in der Limmattaler Zeitung.